Sonntag, 5. Oktober 2014

Über den ersten missglückten Versuch, als Zuhälter ein Ich zu finden


Nach dem Arnie-Müll etwas Besseres: ein weiterer Auszug aus dem hervorragenden Quantenf**k-Roman Kaffee mit Latte; die versprochene Leseprobe übers Kotzen verschieb ich.

Die folgende Leseprobe ist der direkte Anschluss an die Kotz-Szene (sie soll zeigen, wie verkehrt die moralischen Werte sein können, wenn man als Kind permanent verprügelt und damit negativ kognitiv geprägt wird):

Die Zeit: Mai, 1968.
Der Ort: Rom.
Das Geschehen: Andre hat eben seinen ersten Freier "befriedigt", jetzt ist es später Abend...


Josefa, die spindeldürre Römerin mit den hervorstehenden Zähnen, die manch­mal in unserer Bahnhofsrunde saß, für gewöhnlich aber an anderen Orten verkehrte, riss mich aus meiner Reverie, indem sie in meinem Blickfeld auftauchte und ziel­strebig auf mich zu ging, als ob sie mich schon gesucht hätte. Ich kannte sie als ruhig und lächelnd-ausgeglichen, jetzt aber war sie aufgeregt und fahrig. Nervös nahm sie mich auf die Seite und erzählte mir, dass sie eine Frau getroffen hätte, die, entehrt und deswegen aus ihrem Dorf ausgestoßen, nun auf den Strich gehen wollte. Und ich wäre der ideale Mann, sie dabei zu beschützen, meinte sie. Natürlich müsste ich ihr, Josefa, fünfzig Prozent des Gewinns geben. 
Obwohl die Geschichte der "Entehrten" mich an billige Groschenromane erinnerte, überlegte ich nicht lange und begann zu rechnen: Wenn die Nutte mir täglich zwanzigtausend Lire ablieferte, dann war ich nach einer Woche wohlhabend, nach einem Monat reich und nach einem Jahr stinkreich. Mein Ziel von Sonne, Südseestrand und Meer begann sich am Horizont abzuzeichnen.

"Wo ist sie?"

"Gleich hier in der Nähe, in einem Cafe. Sie ist aber total betrunken."

Wir brachen sofort auf. Josefa hängte sich bei mir ein und trippelte an meiner Seite. Ich spürte ihren knochigen Körper und überlegte, wie es mit ihr im Bett wäre, denn ich wusste von ihr, dass sie ab und zu selbst auf den Strich ging.

Als wir bei dem Cafe ankamen, bekam ich ein mulmiges Gefühl in der Bauchgegend. Mit aufgesetzter Forschheit trat ich ins laute Lokal. Josefa führte mich zu einem Flipper, an dem eine Frau lehnte. Sie war jung und hübsch, aber der Alkohol machte sie hässlich: Das also war "unsere" Frau. Sie ließ immer wieder unverständliches Zeug heraus, schimpfte auf nicht vorhandene Leute und belustigte die Zuhörer, meist Männer. Bullige Männer. Jetzt bekam ich grimmiges Bauchweh, dachte an einen Rückzieher, wollte aber auch nicht mein Gesicht verlieren. Also ging ich auf sie zu, bewusst niemandem in die Augen blickend. Und bemüht, etwas Arroganz in mein Auftreten zu legen, sagte ich forsch, mit einer vom Kotzen tiefen Stimme: "Namo!" (Gehen wir!)

Das hatte sie nicht gehört. Das hatte niemand gehört. Das hatten höchstens die bulligen Männer gehört, die mich gleich auslachen würden. Also sagte ich noch forscher: "Namo!"

Dabei packte ich sie an einem Arm, Josefa nahm mehr aus Verlegenheit ihren anderen, gemeinsam führten wir sie aus der Bar. Wieder sah ich keinen an. Ich glaube, wenn ich jemandem in die Augen geblickt hätte, dann wäre ich vor Angst auf der Stelle in Ohnmacht gefallen. Die Frau hing kurz in unseren Armen, dann ließ sie sich willenlos führen. Nach etwa zwanzig Metern fing sie wieder lallend zu schimpfen an, diesmal auf mich und Josefa. Sie hatte eine Fahne von enormen Umfang, mit säuerlichem Einschlag. Ekel übermannte mich, was jedoch den aufkommenden Machtgefühlen keinen Abbruch tat. Die Macht über diese Frau stieg mir in den Kopf, steigerte schlagartig mein Selbstwertgefühl.

Ich sagte: "Tutto va bene! " (Alles geht in Ordnung!)

Sie stierte mich an und schien diesen Satz zu reflektieren, kam aber wohl nicht ganz klar damit. Ich fragte mich, ob er grammatikalisch falsch, oder ob sie völlig hinüber war.

"Tutto va bene", wiederholte ich.

Wieder dieser stiere Blick, wieder schien sie mit leicht rollenden Augen im wackelnden Kopf zu überlegen, was diese Worte wohl bedeuten mochten, bevor sie in ihrem Rausch als bloße Laute untergingen.

"Wir bringen sie zu mir", sagte Josefa.

Teilweise ihren torkelnden Schritt dirigierend, teilweise sie schleppend, waren wir noch keine fünf Minuten weit von der Bar weg, als ich plötzlich merkte, dass uns jemand gefolgt war. Es war ein Mann aus dem Cafe. Jäh bekam ich Herzklopfen und einen trockenen Mund; vielleicht hatte ich schon vorher einen trockenen Mund gehabt, nach dem vielen Kotzen, aber jetzt erst fiel er mir auf, denn die Zunge klebte am Gaumen; und während ich schluckte und schluckte, suchte ich krampfhaft nach einem Ausweg.

"Senti, wohin gehst du mit meiner Frau?"

Er ist jetzt nah. Wir bleiben stehen, ich drehe mich um, stehe vor einem kleinen Süditaliener, der zu mir hochblickt und dennoch auf mich runterschaut. Etwas weiter hinter ihm sehe ich jetzt eine zweite Figur.

"Wer sagt das?" bringe ich mit gepresster und zu hoher Stimme heiser hervor.

"Ich!"

Er ist jetzt sehr sicher. Er wächst um einige Zentimeter. Oder werde ich kleiner? Er ist mir zu nah, ich kann nicht mehr denken, nur soviel weiß ich, dass ich eben einen Punkt überschritten habe, von dem ich nicht mehr zurück kann, also stelle ich mich.

"Und wer bist du?" kommt es aus meinem Mund.

Obwohl mein Herz rast, hab ich plötzlich keine Angst mehr, alle negativen Gedanken sind einer extremen Klarheit gewichen, ich seh der Gefahr ins Auge. Die Gefahr hat einen breiten Oberkörper und kräftige Arme, das ginge ja noch, aber die Gefahr hat sich verdoppelt: Die Figur aus dem Hintergrund ist näher gekommen und starrt mich böse an.

Dann läuft alles wie in einem Film ab, den ich nicht mehr beeinflussen kann: Ich sehe, wie Josefa das torkelnde Mädchen zu einem Wagen am Straßenrand schleppt, wie der andre Mann ihr nachgeht, wie der Typ vor mir einen Kinnhaken vortäuscht, wie ich die Hände hebe und voll einen Schlag in den Bauch bekomme. Unwillkürlich krümme ich mich, kriege plötzlich keine Luft mehr, die Lungenflügel kleben zusammen, ich japse, und die Zeit steht still. Unendlich still. Jetzt erst fällt mir auf, dass es später Abend ist, ja schon fast dunkel, eine verlassene Straße, schlecht beleuchtet. Dann explodiert ein Feuerball in meinem rechten Auge, kurz folgt ein Bewusstseinsaussetzer, dann spüre ich, wie mich etwas weich am Oberkörper und dann am Kopf berührt, eine ganze Fläche ist das, die mich da trifft, und so weich ist sie auch nicht mehr, richtig hart dröhnt sie nach. Und plötzlich wundere ich mich, wieso ich stehen kann und gleichzeitig mit meiner linker Seite steinern hart auf dem Gehweg liege. Wieder explodiert etwas an meinem Kopf, weiß explodiert es, und ich gehe schlafen...

Als ich wieder zu Bewusstsein kam, hatte ich das eigenartige Gefühl, schon seit geraumer Zeit wach zu sein. Denn seit geraumer Zeit hörte ich immer wieder die gleiche Stimme: "He, werd wach, die sind weg! Aufwachen!" Weit weg war diese Stimme, sie hallte seltsam.

Ich öffnete meine Augen und sah Manfred und Bernd, den sonnengebräunten Deutschen, die sich beide zu mir herunterbückten. Im Hintergrund bemerkte ich Josefa, sie hatte ein gerötetes Gesicht und eine blutverschmierte Nase.

"Gott sei Dank! Du lebst noch! Was machst du nur für Sachen! Du kannst jetzt nicht schlapp machen, wo ich doch eine Schlafgelegenheit brauche!" sagte Bernd. Er half mir, mich aufzusetzen. Langsam sammelte ich mich. Ich sah eine schlecht beleuchtete enge, hohle Straße und übergroße Häuser, sah ein übermächtiges Rom.

Manfred sah mich besorgt an: "Ach Gott, ach Gott, diese Andre'sche, es zieht sie einfach in die Gosse!"



Fortsetzung in Kaffee mit Latte - Der Quantenf**k-Roman


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