Montag, 21. Januar 2019

Interview mit einem Versager, Beginn







 

























Interview mit einem Versager
Alfred R. Zeisel

Ein Quantenf**k-Essay mit satirischen Zügen über das Leben, den Film, Leute im Olymp und Unter-Menschen





Inhaltsverzeichnis

1. Der etwas andere Auftrag
2. Das ‚Objekt der Interesses’, verwirrend, interessant und voller Überraschungen
3. Freie Hand
4. Meditieren und Kritisieren
5. Fast ein Kapitel über ein ‚vergangenes Leben‘ als F.W. Murnau, aber es gibt doch Wichtigeres
6. Eine Diskussion über den Archetypus ‚Travelling Angel‘ am Beispiel Honig im Kopf, als Ausklang für den Blog
7. Jud! Eine Liebe in Deutschland – Ein Plädoyer gegen den Antisemitismus in Deutschland, als vorläufig letzter Blog-Ausklang
8. Mont Pi, ein Blog-Nachtrag
9. Es war einmal... eine Eruption am Vesuv, als wirklich vorletzter Blog-Ausklang
10. Die Party – Eine moderne Shakespeare-in-Love-Story, der endgültige Blog-Ausklang
11. Epilog
12. Satirisch gefärbte Aussichten auf eine vorläufige Zukunft mit Corona




„Besser ein Diamant mit einem Fehler als ein Kieselstein ohne.“


Konfuzius



1. Der etwas andere Auftrag

Eigentlich beginnt für Flav Leseitz der Tag ganz normal. Vom Smartphone geweckt, dreht er sich zu seiner Frau, Nita nennt er sie, die Kurzform von Anita, gibt ihr ein Küsschen auf die Wange, dann steht er auf, streckt sich, geht ins Bad, pinkelt im Sitzen, weil er den durch Urinspritzer verursachten Uringeruch als sehr störend empfindet. (Natürlich pinkelt er bei Freunden im Stehen.) Dann rasiert er sich, parallel dazu seine Zähne putzend. Mit einer Hand die geradlinigen langen Bewegungen des Rasierens – er rasiert sich immer nass, weil Nita eine glatte Gesichtshaut bevorzugt, wenn sie sich sexuell vergnügen –, mit der anderen die Drehbewegungen mit der elektrischen Zahnbürste. Solche gegensätzliche Bewegungen fördern die Kreativität und sind somit sehr vorteilhaft für seinen Beruf als Redakteur. So denkt er zumindest, während er Nita beim Pinkeln zusieht. Er sieht ihr gerne zu, er findet das immer so sexy, ihre Körperhaltung, das Geräusch des Urinstrahls, und wie sie sich dann mit einem weichen Stück Klopapier zwischen den Beinen abtrocknet. Während er noch die letzten Reste seine Bartes geräuschvoll wegrasiert, dabei seine Zähne und sein Zahnfleisch kreisförmig massierend, sieht er seiner Frau im Spiegel zu, wie sie mit ihrer neuen Schallzahnbürste ihre Zähne putzt, ihn und seine Konzentrationsübungen veralbernd, indem sie parallel zum geradlinigen Zähneputzen ihre Kopfhaut kreisförmig massiert. Das ist gar nicht so leicht, wie sie feststellen muss. Sie küsst ihn danach, beide gehen ins Schlafzimmer, rollen ihre Gymnastikmatten aus und beginnen mit Pilates. Eine Stunde ist eingeplant, eine Stunde brauchen sie, im Bad waschen sie sich gegenseitig, küssen sich, werden leidenschaftlich… Danach duschen sie einander liebevoll ab, gefolgt von einer erfrischenden kalten Dusche. Abtrocknen, schnelles Ankleiden, Küchentisch, er isst wie immer ein Müsli. Es folgt noch ein kurzes Gespräch mit seiner Frau, die seinen letzten Artikel sehr interessant findet, dabei mit dem Zeigefinger auf den Artikel in der Morgenausgabe der Münchner Zeitung klopfend, die offen neben ihr liegt. Sie kriegen die Zeitung immer schon sehr früh. Im Morgenmantel sitzt sie bei Tisch, ebenfalls ein Müsli löffelnd. Heute mag er die Zeitung nicht lesen. Heute ‚liest‘ er lieber ihren Gesichtsausdruck, während sie seinen Artikel liest. Befriedigt schlürft er die Reste des Müslis aus der Tasse. Geräuschvoll, weil er gerne die sozialen Tabus bricht. Was Nita übrigens auch tut. Sie lächelt kurz, weiterlesend. Danach spült er seinen Mund, küsst sie auf den vollen Mund, was bei ihr ein erneutes kurzes Lächeln auslöst, mit vollem Mund wünscht sie ihm, fast unverständlich, einen schönen Tag. Er muss lachen, fast hat sie ihn angespuckt. Es sind diese kleinen Dinge, die ihre Ehe immer wieder vergnüglich gestalten.

Doch so wirklich beginnt sein neuer Tag erst im Auto. Auf der Fahrt ins Büro denkt er öfters an seinen letzten Artikel. Hätte er ihn vielleicht doch anders gliedern sollen? Auch mit dem Beginn ist er nicht mehr zufrieden. Das ist wohl eines seiner Probleme: Er betrachtet seine Artikel nie als endgültig, würde sie ein paar Tage später ganz anders gestalten. Er ist ein Perfektionist, Gabe und Fluch zugleich. Seine Gedanken finden ein Ende, als er links den Verlag der MünZ sieht. ‚Was, schon wieder so schnell?‘, denkt er. Passiert ihm immer wieder, wenn er über seine letzten Artikel nachdenkt. Einbiegen in die Einfahrt, dem Portier winken, er kennt ihn nur vom Einbiegen und von einer Silvesterparty, nicht einmal seinen Namen weiß er. Er sollte ihn mal beim Vorbeifahren kurz ansprechen, denkt er kurz während des Einparkens. Dann Lift, 2. Stock, das Großraumbüro, schon ziemlich voll, ganz hinten sein Büro. Aber so weit kommt er gar nicht. Eine Sekretärin sagt ihm, dass ihn Herr Bräuer sprechen wolle. Bräuer ist Chefredakteur der MünZ. Vielleicht ein Lob für den letzten, zugegeben recht mutigen Artikel? Hoffentlich. Oder eine neue Recherche?

Lift. 4. Stock. Langer Flur, rechts und links Büros hinter gläsernen Türen. Am Ende die Holztür zum Büro Bräuers. Anklopfen, eintreten, Bräuer sehen, sein Mienenspiel auswerten. Neutral. Nichts herauszulesen.

Bräuer sitzt in seinem bequemen Chefsessel. Er ist Mitte fünfzig. Hinter dem großen Schreibtisch wirkt er fast majestätisch. Er beginnt gleich mit einem Monolog: „Wissen Sie, was das Geheimnis meines Vaters war? Geduld. Durchhaltevermögen. Und Gründlichkeit. Er pflegte öfters zu scherzen, dass vermutlich er der Ursprung des Mythos ‚deutsche Gründlichkeit‘ wäre. Heute würde er es vermutlich nicht mehr so formulieren, bei all dem ausufernden Bürokratismus und anderen Begleiterscheinungen im Zusammenhang damit. Egal. Das jedenfalls wären die essentiellen Grundeigenschaften eines verantwortungsvollen Redakteurs, so sagte er damals. Damit konnte er nach dem Krieg die Amerikaner überzeugen, ihm die Lizenz für unsere Zeitung zu geben, mit der strengen Auflage, vorerst nicht über Probleme zwischen den Alliierten zu berichten, und ‚absolutely no verisimilitude‘.“

Leseitz‘ Gedanken schweifen ab. Das tun sie immer, wenn Bräuer einen seiner Monologe als Auftakt zu einer von ihm beschlossenen Sache beginnt. Und ‚verisimilitude‘, also ‚der Realität nachempfunden‘, ist sicherlich kein Anzeichen für ein nachfolgendes Lob für einen auf Fakten basierenden Artikel. Langsam schaltet er seinen Gehörsinn wieder um, von zu erduldender Geräuschkulisse zum pointierten Bräuer-Monolog: „… Darauf haben die Alliierten bestanden und mein Vater willigte ein, gab es doch damals genug deutsche Probleme. Und sein Grundbestreben war immer schon, Fakten von Meinung zu trennen, und Auslegungen als solche zu kennzeichnen. Sie merken schon, worauf ich hinaus will: Ihre Behandlung des Migrationsproblems, Ihre Vorschläge für eine Reform der Rechtsprechung und des Datenschutzes aufgrund der Theorie eines einzigen renommierten Wissenschaftlers, war zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber in der von Ihnen dargelegten Form viel zu ungenau und extrem angreifbar. Obwohl ich sicher bin, dass Sie Recht haben, besonders jetzt, wo die Migranten ‚gefühlt‘ mehr Rechte haben als die Deutschen. Aber da das Thema ein sehr Heikles ist und sofort zu Polarisierung und verquerem Schubladendenken führt, fehlten hier überprüfbare Fakten, oder von Ihnen schon im Vorhinein widerlegte mögliche Gegenargumente, es fehlten Interviews mit Politologen, Soziologen, die ganze Chose eben. Mir ist klar, der Zeitdruck verhinderte genaueres Recherchieren. Jedenfalls… die Reaktion auf den Artikel war enorm, unsere E-Mail-Konten wurden zugemüllt mit Meinungen von extrem rechts, konservativ und extrem links, zusätzlich heftige Twitter-Reaktionen von Politikern, die ernst zu nehmen sind. Deshalb möchte ich Sie vorübergehend an anderer Stelle einsetzen, mit einem Thema, das mir persönlich am Herzen liegt und das im Moment eher zu Ihnen passt: Finden Sie heraus, warum es Versager gibt – ja, ich meine es ernst! –, und was letztlich einen Versager ausmacht. Und tun Sie das mit dem Typen da: Ich fand ihn interessant. Damit Sie nicht in Ihrer Ausdrucksweise eingeschränkt sind, schreiben Sie vorerst mal einen Blog. Schreiben Sie Ihre Meinungen, Beobachtungen, Auswertungen, kurz lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf!“

Leseitz fällt in einen emotionalen Abgrund, der ihn zu ersticken droht. Er versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber der durchdringende Blick Bräuers lässt ihn nackt und durchschaut fühlen.

Aber Sie haben doch den Artikel abgesegnet!“, kontert er.

Ich möchte etwas Neues versuchen. Vertrauen Sie mir!“, sagt Bräuer, ohne auf Leseitz Entgegnung einzugehen. Dass ihn Herr Koller, der derzeitige Herausgeber der MünZ gewarnt hat, keine solch einseitigen und daher angreifbaren Artikel mehr zu veröffentlichen, verschweigt er ebenso, wie dessen Forderung, Leseitz vorübergehend an ‚anderer Stelle‘ einzusetzen.

Bräuer: „Unsere Zeitung muss umdenken. Nach all dem Hype mit diesen crazy Egomanen, die sich so gerne in den Mittelpunkt stellen und auch ein ‚Star‘ sein wollen, mal etwas völlig Anderes. Ich fand übrigens den Roman von diesem Typen da recht interessant: André – Die Torturen eines Wieners in Wien. Er lässt sich nicht so richtig einordnen, er hat was von einem pikaresken Roman, mit einem Fish-out-of-Water-Anti-Helden. Aber ich will Sie da nicht beeinflussen. Anti-Helden sind, so glaube ich, unsere neuen Helden.“

Leseitz hat gewaltig an den ‚mixed messages‘ seines Chefs zu kauen. Er erinnert sich, mal was über die Auswirkung solcher ‚mixed messages‘ gelesen zu haben, er will das gleich mal recherchieren. Und das Thema? Er muss sich mit einem Loser-Typen auseinandersetzen. Was für eine doppelte Herabsetzung: Einen Blog schreiben, und einen Loser interviewen! Er ist jetzt 34, und statt am Höhepunkt seiner Karriere zu stehen ist er im Nirgendwo ganz unten gelandet.

Bräuer unterbricht Leseitz‘ negative Gedankenflut, indem er ein Blatt mit Internet-Adressen über den großen Schreibtisch hinüberschiebt.

Ich will wissen, ob nur ich so empfinde, denn meiner Frau gefiel der Roman so auf Anhieb überhaupt nicht… Ja, und falls wir hier wirklich jemanden entdecken, der gut ist, der einen neuen Stil entwickelt hat, der möglicherweise auch als Privatperson interessante Lebenseinstellungen hat oder sonst eine interessante Figur abgibt, kriegen wir zusätzliche Leser, vielleicht sogar ein sehr breit gestreutes Zielpublikum. Ich denke, es passt Ihnen auch, ohne die Restriktionen eines Redakteurs zu arbeiten.“

Leseitz sieht abwesend auf das Blatt Papier. Er muss erst seine miesen Gefühle verarbeiten. Das fällt ihm schwer.

Bräuer unterbricht genervt Leseitz‘ Gedankengang. „Noch was?“

Leseitz: „Ja. Läuft der Blog als MünZ-Blog? Oder mach ich einen eigenen?“

Bräuer: „Als MünZ-Blog. Sonst noch Fragen?“

Ja. Mein Gehalt.“

Bräuer nickt. „Bleibt gleich. Falls der Blog erfolgreich ist.“

Falls… Falls… Wie kann er einen Blog erfolgreich gestalten? Panik überfällt ihn, er hat doch keine Ahnung von Blogs. Als erstes muss er sich also über Blogs und Blogtechniken informieren, denkt Leseitz, während er automatisch in den zweiten Stock fährt, automatisch an seinen Arbeitsplatz geht, automatisch an seinem Computer das Passwort eingibt. Erst danach ‚erwacht‘ er wieder. Er findet im Internet einige Blogs, liest sie, studiert sie. Alle haben Bilder. Keine Bilder, das ist also seine Devise, das hatte er sowieso nicht vorgehabt. Und es gibt auch keine Blogs über Versager. Jeder Blog ist verschieden, Bilder vertuschen oft die schlechten Schreibtechniken der ‚Autoren‘. Diese Blog-Autoren sind also keine Konkurrenz. Beruhigt informiert er sich jetzt über ‚mixed messages‘: Er findet die Theorie über ‚kognitive Dissonanz‘ und die ‚Doppelbindungstheorie‘. Beide Arten können eine Art gedanklicher Lähmung auslösen. Das ist wohl eine von Bräuers Maschen: die Umgebung geistig lähmen, während er über einen neuen Auftrag spricht oder kleine oder weiße Lügen von sich gibt. Er wird sachlich, macht ein paar Notizen, um sich aus dem tiefen Abgrund des Versagens hochzuarbeiten:

Was genau ist ein Versager?

Bin ich ein Versager? (Er muss unwillkürlich über die Ironie lachen: Ein Versager interviewt einen Versager!)

Was macht einen Versager aus?

Warum ist jemand ein Versager?

War Van Gogh ein Versager? Wäre er heute ein Versager? Und wenn ja, warum?

Was wäre aus Goethe geworden, hätte er nicht Förderer gehabt?

Wäre Karl Lagerfeld auch ohne Coco Chanel berühmt geworden?

Ist man nur erfolgreich, wenn man von jemanden, der schon etabliert ist, gefördert wird?

Nach dem Brainstorming fühlt sich Leseitz etwas besser, sucht den Roman dieses AZ im Netz, liest den Anfang, gefällt ihm nicht, liest dann in dessen Sketche rein, gefallen ihm auch nicht. Er lehnt sich zurück, seine aktuelle Situation überdenkend. Unerträglich ist das Gefühl der Herabsetzung. Und dieser AZ ist völlig uninteressant. Mit dem gefühlsmäßig zwanzig Kilo schweren Gefühl auf seinen hängenden Schultern, nichts erreicht zu haben, geht er am Abend in die Garage der MünZ. Im Auto reflektiert er den Tag: Er sieht sich von einer Lawine überrollt, er kann nicht abschalten. Er startet den Motor, fährt am Portier vorbei, dem er automatisch zuwinkt. Dann der Verkehr, den er überhaupt nicht registriert. Vor ihm ist ein Abend mit seiner Frau, von der er hofft, Unterstützung zu bekommen. Kurz fragt er sich, warum ihm die Meinung seiner Frau so wichtig ist. Wahrscheinlich, weil er sie liebt.

Zuhause dann wird er erst mal enttäuscht. Seine Frau empfindet diesen neuen Auftrag als Abwertung. Dann ihre Frage: „Muss ich mir jetzt Sorgen machen?“ Worauf er verneinend den Kopf schüttelt, hoffend, dass sie seine Notlüge nicht sieht. Sie überlegt kurz seine Situation, dann kommt die Werbetexterin in ihr kommt zum Vorschein. Sie hat die Idee, diesen Auftrag als Herausforderung für etwas Neues zu sehen. Und dahingehend ermuntert sie ihn auch. Sie unterstreicht dies noch mit dem Gedanken, dass er keinen Kampf mehr im Haifischbecken auszutragen hat, dass er endlich raus ist aus dem Pool rivalisierender Redakteure. Ihr Eifer entfacht sein Feuer. Ganz plötzlich hat er die Idee, einen speziellen Blog zu kreieren, der genau das wiedergibt oder präsentiert, was gesagt wurde, ohne die Möglichkeit, dies zu korrigieren. Dieser Gedanke belebt ihn zusätzlich. Sie liest seine Notizen, findet sie gut, hat auch einige interessante Vorschläge. Zusätzlich kommt sie mit Beispielen aus der Geschichte, die aufzeigen, dass erst durch Ablehnung und Neubeginn etwas Interessantes entstand, das öffentliches Interesse erweckte. Flav fühlt sich bestätigt. Seine Frau ist gut. Auch sie hat sich mal verrannt, hat gut bezahlte Werbung für eine spezielle Firma gemacht. Doch ihre routiniert gestalteten Lügen über verschiedene Produkte waren für sie schließlich moralisch nicht mehr zu vertreten, dass sie kündigte. Sie wollte nur mehr ethische Werbung zu machen. Was eine Kontradiktion in sich ist: Denn Werbung hebt immer das Produkt als außerordentlich, einmalig und mit ungewöhnlichen Superlativen ausgezeichnet hervor. Sie blickte in Richtung Tierschutz, konnte hier einiges verkaufen, bis sie auch hier enttäuscht wurde. Sie sucht jetzt eine Möglichkeit, eine ethische Werbefirma zu gründen. Kein leichtes Unterfangen: ethische Werbung.

Er spürt das Feuer, das sie in ihm entfacht hat. Erregt küsst er sie, greift ihr zwischen die Beine.

Me too?“, scherzt sie. „Nein. Nicht jetzt. Du musst dich vorbereiten“, sagt sie energisch, fast in einem Befehlston. Er mag ihr resolutes Auftreten. Sie steht auf und legt eine Blu-ray ein. Es ist der neue Zhang-Yimou-Film Shadow. Er küsst ihre Haare. Gut riechen sie. Sie streichelt kurz seine Hand, die über ihre Schulter fährt. Dann geht er ins Arbeitszimmer, setzt sich an den Computer, liest wieder in den Roman dieses AZ rein. Und was im Büro eher langweilig schien, gefällt ihm jetzt. Der Beginn ist langsam aber interessant genug erzählt, dass Leseitz Lust hat, weiterzulesen. Er fragt sich, wieso ihm der Buchbeginn im Büro nicht gefiel, jetzt aber schon. Dann erinnert er sich an seine Filmkritiken, die er für eine andere Zeitung verfasste, öfters ist ihm schon aufgefallen, dass er einen Film zuerst nicht mochte, diesen aber zu einem späteren Zeitpunkt erstaunlich gut fand. Offensichtlich hat ein Kritiker auch Tage, an denen er keinen Zugang zu einem Film oder einem Buch findet, weil er persönlich dafür nicht bereit oder offen ist. Und er war ja gestern emotional ganz unten, als er die Bücher des AZ anlas. Jetzt ist er obenauf. Und er liest und liest, öfters lacht er. Bräuer hatte Recht: Der Roman ist interessant. Erstaunt stellt er fest, dass zwei Stunden wie im Flug vergangen sind, als seine Frau nach dem Film ins Arbeitszimmer schaut.

Wie war der Film“, fragt er. Sie ist halb bekleidet, was ihn kurz ablenkt.

Interessant. Er hat mich ziemlich beeindruckt“, sagt sie. Sie küsst seine Haare, reibt ihre Nase darin, ihre Hände streicheln seine Brust, während sie sich leicht über ihn bückt und in den Roman hineinliest. Sie lacht kurz.

Geht es hier um nur ums Kotzen?“ fragt sie scherzend.

Nein, es ist mehr die Suche eines jungen Mannes nach seinem Ich“, antwortet er.

Wie kann man nur sein Ich verlieren? Beim Kotzen?“, albert sie weiter.

Wenn man alle paar Monate als Kind halb tot geschlagen wird, verliert man offensichtlich sein Ich“, ist seine Antwort, während er weiter liest. Sie krault seine Haare, will ihn ablenken, fährt mit der Linken in seine linken Hosentasche, ihn fragend: „Hast du ein Geschenk für mich?“ Sanft zieht er ihre Hand wieder raus, führt ihre Finger zu seiner Nase, daran riechend, dann sie einzeln abküssend, während er weiter liest, ohne Unterbrechung. Sie mag dieses ‚Fingerkosen‘, streichelt seine Wange, denkt nur, wenn er sich nicht ablenken lässt, dann muss die Geschichte ja interessant sein. Gut gelaunt geht sie ins Schlafzimmer. Sie sieht noch ein wenig TV, nach einigem Herumzappen landet sie bei einer Talkshow. Lauter bekannte Gesichter, viel Debattieren, viele künstliche Wichtigkeiten, wenig Inhalt, langweilig. Sie fragt sich, wie Reiche über Probleme der Armen diskutieren können, die sie doch gar nicht erlebt haben. Wenig später schläft sie ein. Sie schläft öfters beim Fernsehen ein. Sie mag das. Sie merkt irgendwann, dass ihr Mann sich an sie kuschelt. Sie mag das, schläft weiter.

Nächster Morgen, gleiches Ritual: Rasieren, gleichzeitiges Zähneputzen. Dann Pilates-Gymnastik. Während der Übungen Blicke, ohne Worte, beide finden ihren Ruhepunkt. Dann gemeinsames Duschen, kurze Küsse, dann längere, gefolgt von Leidenschaft... Beim Frühstück fragt sie nach seinem Eindruck von AZ‘s Roman. Er findet ihn ungewöhnlich und interessant. Er will ihn so bald wie möglich zu Ende lesen. Erst jetzt gesteht er ihr, ihr gestern eine kleine Unwahrheit erzählt zu haben, er könnte tatsächlich bald ohne Job dastehen, wenn der Blog nicht gut wird. Sie tut auf empört. „Also, wirklich!“, dann lacht sie. „Ich habe es doch sofort gemerkt, als ich dein Gehalt ansprach. Du bist kein Lügner. Gerade das liebe ich an dir“, sagt sie. „Jedenfalls werde ich auch in die Bücher dieses AZ hineinlesen. Vielleicht gefallen sie mir. Die Kotzszene fand ich jedenfalls schon lustig.“ Sie gibt ihm zum Abschied ein besonders liebevolles Küsschen, um seinen kommenden Tag ein wenig aufzuhellen. Auf der Fahrt ins Büro denkt Leseitz an seinen Auftrag und an die vielen neuen Möglichkeiten, die ein solcher Blog zulässt. Wieder finden seine Gedanken ein Ende, als er links den Verlag der MünZ sieht. Einbiegen in die Einfahrt, ein paar freundliche Worte mit dem Portier gewechselt und schon hellt sich dessen gelangweiltes Gesicht auf. Das gefällt Leseitz, es gibt ihm einen zusätzlichen Drive.

Wenig später sitzt Leseitz am Computer. Er will vorerst mal alles finden, was AZ geschrieben hat. Erst mal fällt ihm auf, dass es etliche AZ‘s und Z‘s gibt, alles Juden. Zwei AZ‘s, Vater und Sohn, wurden in Theresienstadt ermordet, ein weiterer in Auschwitz. Ein Z war sogar Bürgermeister von Haifa. Er surft, den richtigen AZ suchend, und findet auch einiges über ihn. Erstaunt entdeckt er auch zwei kritische Bücher über Scientology, die AZ veröffentlicht hat. Leseitz‘ unterschwellig ansteigende Achtung vor AZ wird getrübt – offensichtlich gehört er zu jenen Leuten, die Sektenangehörige als geistig minder bemittelt bewerten. Er liest rein in eins dieser kritischen Bücher, erst widerwillig, dann mit Interesse, manchmal lachend. Er schüttelt den Kopf über den ungewöhnlichen Inhalt. Er liest auch die Leseproben einiger seiner anderen Bücher, fast jedes hat einen anderen Stil. Sogar ein englischsprachiges ist darunter, das er nicht als Kurzgeschichte, sondern als Einleitung zu einem Science-Fiction-Roman klassifiziert. Und er findet auch kurze Exposés dreier Drehbücher: Drama, Komödie, eine Serie. Vor allem diese kurzen Exposés und Zusammenfassungen haben einen für ihn ansprechenden Stil, sind informativ, sind präzise, sind Interesse erweckend. Offensichtlich beherrscht AZ auch Pitching. Leseitz ist jetzt ausreichend informiert, um AZ anzurufen.

Nach dem anfänglichen Austausch formaler Höflichkeiten fragt AZ nach dem Grund und den Inhalt des Interviews.

Meine Zeitung will mehr über noch unbekannte Autoren wie Sie herausfinden. Z.B.: Woher haben Sie Ihre Ideen? Wie entwickelten Sie Ihren Schreibstil? Was ist Ihre Einstellung zu verschiedenen politischen und sozialen Themen? Ein Interview eben.“

Verstehe… Lassen Sie mich zurückrufen.“

Leseitz schaut etwas erstaunt, als AZ unvermittelt auflegt. Er ahnt einen unbequemen Interviewpartner. Nach ein paar Minuten ein Anruf: Es ist AZ.

Sorry, ich wollte nur sichergehen, dass Sie auch wirklich bei der MünZ arbeiten.“

Leseitz überlegt kurz, was es mit dieser Vorsicht oder Paranoia auf sich haben könnte, dann macht er einen Termin für ein Interview aus.

Er liest weiter in den verschiedenen AZ-Büchern, macht Notizen. Allgemeiner Tenor: nicht uninteressant.