Interview mit einem
Versager
Inhaltsverzeichnis
Alfred R. Zeisel
Ein Quantenf**k-Essay mit
satirischen Zügen über das Leben, den Film, Leute im Olymp und
Unter-Menschen
Inhaltsverzeichnis
1. Der etwas andere Auftrag
2. Das ‚Objekt der Interesses’, verwirrend, interessant und voller Überraschungen
3. Freie Hand
4. Meditieren und Kritisieren
5. Fast ein Kapitel über ein ‚vergangenes Leben‘ als F.W. Murnau, aber es gibt doch Wichtigeres
6. Eine Diskussion über den Archetypus ‚Travelling Angel‘ am Beispiel Honig im Kopf, als Ausklang für den Blog
7. Jud! Eine Liebe in Deutschland – Ein Plädoyer gegen den Antisemitismus in Deutschland, als vorläufig letzter Blog-Ausklang
8. Mont Pi, ein Blog-Nachtrag
9. Es war einmal... eine Eruption am Vesuv, als wirklich vorletzter Blog-Ausklang
10. Die Party – Eine moderne Shakespeare-in-Love-Story, der endgültige Blog-Ausklang
11. Epilog
12. Satirisch gefärbte Aussichten auf eine vorläufige Zukunft mit Corona
„Besser ein Diamant mit einem Fehler als ein Kieselstein ohne.“
Konfuzius
1. Der etwas andere Auftrag
Eigentlich
beginnt für Flav Leseitz der Tag ganz normal. Vom Smartphone
geweckt, dreht er sich zu seiner Frau, Nita nennt er sie, die
Kurzform von Anita, gibt ihr ein Küsschen auf die Wange, dann steht
er auf, streckt sich, geht ins Bad, pinkelt im Sitzen, weil er den
durch Urinspritzer verursachten Uringeruch als sehr störend
empfindet. (Natürlich pinkelt er bei Freunden im Stehen.) Dann
rasiert er sich, parallel dazu seine Zähne putzend. Mit einer Hand
die geradlinigen langen Bewegungen des Rasierens – er rasiert sich
immer nass, weil Nita eine glatte Gesichtshaut bevorzugt, wenn sie
sich sexuell vergnügen –, mit der anderen die Drehbewegungen mit
der elektrischen Zahnbürste. Solche gegensätzliche Bewegungen
fördern die Kreativität und sind somit sehr vorteilhaft für seinen
Beruf als Redakteur. So denkt er zumindest, während er Nita beim
Pinkeln zusieht. Er sieht ihr gerne zu, er findet das immer so sexy,
ihre Körperhaltung, das Geräusch des Urinstrahls, und wie sie sich
dann mit einem weichen Stück Klopapier zwischen den Beinen
abtrocknet. Während er noch die letzten Reste seine Bartes
geräuschvoll wegrasiert, dabei seine Zähne und sein Zahnfleisch
kreisförmig massierend, sieht er seiner Frau im Spiegel zu, wie sie
mit ihrer neuen Schallzahnbürste ihre Zähne putzt, ihn und seine
Konzentrationsübungen veralbernd, indem sie parallel zum
geradlinigen Zähneputzen ihre Kopfhaut kreisförmig massiert. Das
ist gar nicht so leicht, wie sie feststellen muss. Sie küsst ihn
danach, beide gehen ins Schlafzimmer, rollen ihre Gymnastikmatten aus
und beginnen mit Pilates. Eine Stunde ist eingeplant, eine Stunde
brauchen sie, im Bad waschen sie sich gegenseitig, küssen sich,
werden leidenschaftlich… Danach duschen sie einander liebevoll ab,
gefolgt von einer erfrischenden kalten Dusche. Abtrocknen, schnelles
Ankleiden, Küchentisch, er isst wie immer ein Müsli. Es folgt noch
ein kurzes Gespräch mit seiner Frau, die seinen letzten Artikel sehr
interessant findet, dabei mit dem Zeigefinger auf den Artikel in der
Morgenausgabe der Münchner Zeitung klopfend, die offen neben ihr
liegt. Sie kriegen die Zeitung immer schon sehr früh. Im
Morgenmantel sitzt sie bei Tisch, ebenfalls ein Müsli löffelnd.
Heute mag er die Zeitung nicht lesen. Heute ‚liest‘ er lieber
ihren Gesichtsausdruck, während sie seinen Artikel liest. Befriedigt
schlürft er die Reste des Müslis aus der Tasse. Geräuschvoll, weil
er gerne die sozialen Tabus bricht. Was Nita übrigens auch tut. Sie
lächelt kurz, weiterlesend. Danach spült er seinen Mund, küsst sie
auf den vollen Mund, was bei ihr ein erneutes kurzes Lächeln
auslöst, mit vollem Mund wünscht sie ihm, fast unverständlich,
einen schönen Tag. Er muss lachen, fast hat sie ihn angespuckt. Es
sind diese kleinen Dinge, die ihre Ehe immer wieder vergnüglich
gestalten.
Doch
so wirklich beginnt sein neuer Tag erst im Auto. Auf der Fahrt ins
Büro denkt er öfters an seinen letzten Artikel. Hätte er ihn
vielleicht doch anders gliedern sollen? Auch mit dem Beginn ist er
nicht mehr zufrieden. Das ist wohl eines seiner Probleme: Er
betrachtet seine Artikel nie als endgültig, würde sie ein paar Tage
später ganz anders gestalten. Er ist ein Perfektionist, Gabe und
Fluch zugleich. Seine Gedanken finden ein Ende, als er links den
Verlag der MünZ sieht. ‚Was, schon wieder so schnell?‘, denkt
er. Passiert ihm immer wieder, wenn er über seine letzten Artikel
nachdenkt. Einbiegen in die Einfahrt, dem Portier winken, er kennt
ihn nur vom Einbiegen und von einer Silvesterparty, nicht einmal
seinen Namen weiß er. Er sollte ihn mal beim Vorbeifahren kurz
ansprechen, denkt er kurz während des Einparkens. Dann Lift, 2.
Stock, das Großraumbüro, schon ziemlich voll, ganz hinten sein
Büro. Aber so weit kommt er gar nicht. Eine Sekretärin sagt ihm,
dass ihn Herr Bräuer sprechen wolle. Bräuer ist Chefredakteur der
MünZ. Vielleicht ein Lob für den letzten, zugegeben recht mutigen
Artikel? Hoffentlich. Oder eine neue Recherche?
Lift.
4. Stock. Langer Flur, rechts und links Büros hinter gläsernen
Türen. Am Ende die Holztür zum Büro Bräuers. Anklopfen,
eintreten, Bräuer sehen, sein Mienenspiel auswerten. Neutral. Nichts
herauszulesen.
Bräuer
sitzt in seinem bequemen Chefsessel. Er ist Mitte fünfzig. Hinter
dem großen Schreibtisch wirkt er fast majestätisch. Er beginnt
gleich mit einem Monolog: „Wissen Sie, was das Geheimnis meines
Vaters war? Geduld. Durchhaltevermögen. Und Gründlichkeit. Er
pflegte öfters zu scherzen, dass vermutlich er der Ursprung des
Mythos ‚deutsche Gründlichkeit‘ wäre. Heute würde er es
vermutlich nicht mehr so formulieren, bei all dem ausufernden
Bürokratismus und anderen Begleiterscheinungen im Zusammenhang
damit. Egal. Das jedenfalls wären die essentiellen
Grundeigenschaften eines verantwortungsvollen Redakteurs, so sagte er
damals. Damit konnte er nach dem Krieg die Amerikaner überzeugen,
ihm die Lizenz für unsere Zeitung zu geben, mit der strengen
Auflage, vorerst nicht über Probleme zwischen den Alliierten zu
berichten, und ‚absolutely no verisimilitude‘.“
Leseitz‘
Gedanken schweifen ab. Das tun sie immer, wenn Bräuer einen seiner
Monologe als Auftakt zu einer von ihm beschlossenen Sache beginnt.
Und ‚verisimilitude‘, also ‚der Realität nachempfunden‘, ist
sicherlich kein Anzeichen für ein nachfolgendes Lob für einen auf
Fakten basierenden Artikel. Langsam schaltet er seinen Gehörsinn
wieder um, von zu erduldender Geräuschkulisse zum pointierten
Bräuer-Monolog: „… Darauf haben die Alliierten bestanden und
mein Vater willigte ein, gab es doch damals genug deutsche Probleme.
Und sein Grundbestreben war immer schon, Fakten von Meinung zu
trennen, und Auslegungen als solche zu kennzeichnen. Sie merken
schon, worauf ich hinaus will: Ihre Behandlung des
Migrationsproblems, Ihre Vorschläge für eine Reform der
Rechtsprechung und des Datenschutzes aufgrund der Theorie eines
einzigen renommierten Wissenschaftlers, war zwar ein Schritt in die
richtige Richtung, aber in der von Ihnen dargelegten Form viel zu
ungenau und extrem angreifbar. Obwohl ich sicher bin, dass Sie Recht
haben, besonders jetzt, wo die Migranten ‚gefühlt‘ mehr Rechte
haben als die Deutschen. Aber da das Thema ein sehr Heikles ist und
sofort zu Polarisierung und verquerem Schubladendenken führt,
fehlten hier überprüfbare Fakten, oder von Ihnen schon im Vorhinein
widerlegte mögliche Gegenargumente, es fehlten Interviews mit
Politologen, Soziologen, die ganze Chose eben. Mir ist klar, der
Zeitdruck verhinderte genaueres Recherchieren. Jedenfalls… die
Reaktion auf den Artikel war enorm, unsere E-Mail-Konten wurden
zugemüllt mit Meinungen von extrem rechts, konservativ und extrem
links, zusätzlich heftige Twitter-Reaktionen von Politikern, die
ernst zu nehmen sind. Deshalb möchte ich Sie vorübergehend an
anderer Stelle einsetzen, mit einem Thema, das mir persönlich am
Herzen liegt und das im Moment eher zu Ihnen passt: Finden Sie
heraus, warum es Versager gibt – ja, ich meine es ernst! –, und
was letztlich einen Versager ausmacht. Und tun Sie das mit dem Typen
da: Ich fand ihn interessant. Damit Sie nicht in Ihrer Ausdrucksweise
eingeschränkt sind, schreiben Sie vorerst mal einen Blog. Schreiben
Sie Ihre Meinungen, Beobachtungen, Auswertungen, kurz lassen Sie
Ihrer Fantasie freien Lauf!“
Leseitz
fällt in einen emotionalen Abgrund, der ihn zu ersticken droht. Er
versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber der durchdringende
Blick Bräuers lässt ihn nackt und durchschaut fühlen.
„Aber
Sie haben doch den Artikel abgesegnet!“, kontert er.
„Ich
möchte etwas Neues versuchen. Vertrauen Sie mir!“, sagt Bräuer,
ohne auf Leseitz Entgegnung einzugehen. Dass ihn Herr Koller, der
derzeitige Herausgeber der MünZ gewarnt hat, keine solch einseitigen
und daher angreifbaren Artikel mehr zu veröffentlichen, verschweigt
er ebenso, wie dessen Forderung, Leseitz vorübergehend an ‚anderer
Stelle‘ einzusetzen.
Bräuer:
„Unsere Zeitung muss umdenken. Nach all dem Hype mit diesen crazy
Egomanen, die sich so gerne in den Mittelpunkt stellen und auch ein
‚Star‘ sein wollen, mal etwas völlig Anderes. Ich fand übrigens
den Roman von diesem Typen da recht interessant: André
– Die Torturen eines Wieners in Wien.
Er lässt sich nicht so richtig einordnen, er hat was von einem
pikaresken Roman, mit einem Fish-out-of-Water-Anti-Helden. Aber ich
will Sie da nicht beeinflussen. Anti-Helden sind, so glaube ich,
unsere neuen Helden.“
Leseitz
hat gewaltig an den ‚mixed messages‘ seines Chefs zu kauen. Er
erinnert sich, mal was über die Auswirkung solcher ‚mixed
messages‘ gelesen zu haben, er will das gleich mal recherchieren.
Und das Thema? Er muss sich mit einem Loser-Typen auseinandersetzen.
Was für eine doppelte Herabsetzung: Einen Blog schreiben, und einen
Loser interviewen! Er ist jetzt 34, und statt am Höhepunkt seiner
Karriere zu stehen ist er im Nirgendwo ganz unten gelandet.
Bräuer
unterbricht Leseitz‘ negative Gedankenflut, indem er ein Blatt mit
Internet-Adressen über den großen Schreibtisch hinüberschiebt.
„Ich
will wissen, ob nur ich so empfinde, denn meiner Frau gefiel der
Roman so auf Anhieb überhaupt nicht… Ja, und falls wir hier
wirklich jemanden entdecken, der gut ist, der einen neuen Stil
entwickelt hat, der möglicherweise auch als Privatperson
interessante Lebenseinstellungen hat oder sonst eine interessante
Figur abgibt, kriegen wir zusätzliche Leser, vielleicht sogar ein
sehr breit gestreutes Zielpublikum. Ich denke, es passt Ihnen auch,
ohne die Restriktionen eines Redakteurs zu arbeiten.“
Leseitz
sieht abwesend auf das Blatt Papier. Er muss erst seine miesen
Gefühle verarbeiten. Das fällt ihm schwer.
Bräuer
unterbricht genervt Leseitz‘ Gedankengang. „Noch was?“
Leseitz:
„Ja. Läuft der Blog als MünZ-Blog? Oder mach ich einen eigenen?“
Bräuer:
„Als MünZ-Blog. Sonst noch Fragen?“
„Ja.
Mein Gehalt.“
Bräuer
nickt. „Bleibt gleich. Falls der Blog erfolgreich ist.“
Falls…
Falls… Wie kann er einen Blog erfolgreich gestalten? Panik
überfällt ihn, er hat doch keine Ahnung von Blogs. Als erstes muss
er sich also über Blogs und Blogtechniken informieren, denkt
Leseitz, während er automatisch in den zweiten Stock fährt,
automatisch an seinen Arbeitsplatz geht, automatisch an seinem
Computer das Passwort eingibt. Erst danach ‚erwacht‘ er wieder.
Er findet im Internet einige Blogs, liest sie, studiert sie. Alle
haben Bilder. Keine Bilder, das ist also seine Devise, das hatte er
sowieso nicht vorgehabt. Und es gibt auch keine Blogs über Versager.
Jeder Blog ist verschieden, Bilder vertuschen oft die schlechten
Schreibtechniken der ‚Autoren‘. Diese Blog-Autoren sind also
keine Konkurrenz. Beruhigt informiert er sich jetzt über ‚mixed
messages‘: Er findet die Theorie über ‚kognitive Dissonanz‘
und die ‚Doppelbindungstheorie‘. Beide Arten können eine Art
gedanklicher Lähmung auslösen. Das ist wohl eine von Bräuers
Maschen: die Umgebung geistig lähmen, während er über einen neuen
Auftrag spricht oder kleine oder weiße Lügen von sich gibt. Er wird
sachlich, macht ein paar Notizen, um sich aus dem tiefen Abgrund des
Versagens hochzuarbeiten:
Was
genau ist ein Versager?
Bin
ich ein Versager? (Er muss unwillkürlich über die Ironie lachen:
Ein Versager interviewt einen Versager!)
Was
macht einen Versager aus?
Warum
ist jemand ein Versager?
War
Van Gogh ein Versager? Wäre er heute ein Versager? Und wenn ja,
warum?
Was
wäre aus Goethe geworden, hätte er nicht Förderer gehabt?
Wäre
Karl Lagerfeld auch ohne Coco Chanel berühmt geworden?
Ist
man nur erfolgreich, wenn man von jemanden, der schon etabliert ist,
gefördert wird?
Nach
dem Brainstorming fühlt sich Leseitz etwas besser, sucht den Roman
dieses AZ im Netz, liest den Anfang, gefällt ihm nicht, liest dann
in dessen Sketche rein, gefallen ihm auch nicht. Er lehnt sich
zurück, seine aktuelle Situation überdenkend. Unerträglich ist das
Gefühl der Herabsetzung. Und dieser AZ ist völlig uninteressant.
Mit dem gefühlsmäßig zwanzig Kilo schweren Gefühl auf seinen
hängenden Schultern, nichts erreicht zu haben, geht er am Abend in
die Garage der MünZ. Im Auto reflektiert er den Tag: Er sieht sich
von einer Lawine überrollt, er kann nicht abschalten. Er startet den
Motor, fährt am Portier vorbei, dem er automatisch zuwinkt. Dann der
Verkehr, den er überhaupt nicht registriert. Vor ihm ist ein Abend
mit seiner Frau, von der er hofft, Unterstützung zu bekommen. Kurz
fragt er sich, warum ihm die Meinung seiner Frau so wichtig ist.
Wahrscheinlich, weil er sie liebt.
Zuhause
dann wird er erst mal enttäuscht. Seine Frau empfindet diesen neuen
Auftrag als Abwertung. Dann ihre Frage: „Muss ich mir jetzt Sorgen
machen?“ Worauf er verneinend den Kopf schüttelt, hoffend, dass
sie seine Notlüge nicht sieht. Sie überlegt kurz seine Situation,
dann kommt die Werbetexterin in ihr kommt zum Vorschein. Sie hat die
Idee, diesen Auftrag als Herausforderung für etwas Neues zu sehen.
Und dahingehend ermuntert sie ihn auch. Sie unterstreicht dies noch
mit dem Gedanken, dass er keinen Kampf mehr im Haifischbecken
auszutragen hat, dass er endlich raus ist aus dem Pool
rivalisierender Redakteure. Ihr Eifer entfacht sein Feuer. Ganz
plötzlich hat er die Idee, einen speziellen Blog zu kreieren, der
genau das wiedergibt oder präsentiert, was gesagt wurde, ohne die
Möglichkeit, dies zu korrigieren. Dieser Gedanke belebt ihn
zusätzlich. Sie liest seine Notizen, findet sie gut, hat auch einige
interessante Vorschläge. Zusätzlich kommt sie mit Beispielen aus
der Geschichte, die aufzeigen, dass erst durch Ablehnung und
Neubeginn etwas Interessantes entstand, das öffentliches Interesse
erweckte. Flav fühlt sich bestätigt. Seine Frau ist gut. Auch sie
hat sich mal verrannt, hat gut bezahlte Werbung für eine spezielle
Firma gemacht. Doch ihre routiniert gestalteten Lügen über
verschiedene Produkte waren für sie schließlich moralisch nicht
mehr zu vertreten, dass sie kündigte. Sie wollte nur mehr ethische
Werbung zu machen. Was eine Kontradiktion in sich ist: Denn Werbung
hebt immer das Produkt als außerordentlich, einmalig und mit
ungewöhnlichen Superlativen ausgezeichnet hervor. Sie blickte in
Richtung Tierschutz, konnte hier einiges verkaufen, bis sie auch hier
enttäuscht wurde. Sie sucht jetzt eine Möglichkeit, eine ethische
Werbefirma zu gründen. Kein leichtes Unterfangen: ethische Werbung.
Er
spürt das Feuer, das sie in ihm entfacht hat. Erregt küsst er sie,
greift ihr zwischen die Beine.
„Me
too?“, scherzt sie. „Nein. Nicht jetzt. Du musst dich
vorbereiten“, sagt sie energisch, fast in einem Befehlston. Er mag
ihr resolutes Auftreten. Sie steht auf und legt eine Blu-ray ein. Es
ist der neue Zhang-Yimou-Film Shadow.
Er küsst ihre Haare. Gut riechen sie. Sie streichelt kurz seine
Hand, die über ihre Schulter fährt. Dann geht er ins Arbeitszimmer,
setzt sich an den Computer, liest wieder in den Roman dieses AZ rein.
Und was im Büro eher langweilig schien, gefällt ihm jetzt. Der
Beginn ist langsam aber interessant genug erzählt, dass Leseitz Lust
hat, weiterzulesen. Er fragt sich, wieso ihm der Buchbeginn im Büro
nicht gefiel, jetzt aber schon. Dann erinnert er sich an seine
Filmkritiken, die er für eine andere Zeitung verfasste, öfters ist
ihm schon aufgefallen, dass er einen Film zuerst nicht mochte, diesen
aber zu einem späteren Zeitpunkt erstaunlich gut fand.
Offensichtlich hat ein Kritiker auch Tage, an denen er keinen Zugang
zu einem Film oder einem Buch findet, weil er persönlich dafür
nicht bereit oder offen ist. Und er war ja gestern emotional ganz
unten, als er die Bücher des AZ anlas. Jetzt ist er obenauf. Und er
liest und liest, öfters lacht er. Bräuer hatte Recht: Der Roman ist
interessant. Erstaunt stellt er fest, dass zwei Stunden wie im Flug
vergangen sind, als seine Frau nach dem Film ins Arbeitszimmer
schaut.
„Wie
war der Film“, fragt er. Sie ist halb bekleidet, was ihn kurz
ablenkt.
„Interessant.
Er hat mich ziemlich beeindruckt“, sagt sie. Sie küsst seine
Haare, reibt ihre Nase darin, ihre Hände streicheln seine Brust,
während sie sich leicht über ihn bückt und in den Roman
hineinliest. Sie lacht kurz.
„Geht
es hier um nur ums Kotzen?“ fragt sie scherzend.
„Nein,
es ist mehr die Suche eines jungen Mannes nach seinem Ich“,
antwortet er.
„Wie
kann man nur sein Ich verlieren? Beim Kotzen?“, albert sie weiter.
„Wenn
man alle paar Monate als Kind halb tot geschlagen wird, verliert man
offensichtlich sein Ich“, ist seine Antwort, während er weiter
liest. Sie krault seine Haare, will ihn ablenken, fährt mit der
Linken in seine linken Hosentasche, ihn fragend: „Hast du ein
Geschenk für mich?“ Sanft zieht er ihre Hand wieder raus, führt
ihre Finger zu seiner Nase, daran riechend, dann sie einzeln
abküssend, während er weiter liest, ohne Unterbrechung. Sie mag
dieses ‚Fingerkosen‘, streichelt seine Wange, denkt nur, wenn er
sich nicht ablenken lässt, dann muss die Geschichte ja interessant
sein. Gut gelaunt geht sie ins Schlafzimmer. Sie sieht noch ein wenig
TV, nach einigem Herumzappen landet sie bei einer Talkshow. Lauter
bekannte Gesichter, viel Debattieren, viele künstliche
Wichtigkeiten, wenig Inhalt, langweilig. Sie fragt sich, wie Reiche
über Probleme der Armen diskutieren können, die sie doch gar nicht
erlebt haben. Wenig später schläft sie ein. Sie schläft öfters
beim Fernsehen ein. Sie mag das. Sie merkt irgendwann, dass ihr Mann
sich an sie kuschelt. Sie mag das, schläft weiter.
Nächster
Morgen, gleiches Ritual: Rasieren, gleichzeitiges Zähneputzen. Dann
Pilates-Gymnastik. Während der Übungen Blicke, ohne Worte, beide
finden ihren Ruhepunkt. Dann gemeinsames Duschen, kurze Küsse, dann
längere, gefolgt von Leidenschaft... Beim Frühstück fragt sie nach
seinem Eindruck von AZ‘s Roman. Er findet ihn ungewöhnlich und
interessant. Er will ihn so bald wie möglich zu Ende lesen. Erst
jetzt gesteht er ihr, ihr gestern eine kleine Unwahrheit erzählt zu
haben, er könnte tatsächlich bald ohne Job dastehen, wenn der Blog
nicht gut wird. Sie tut auf empört. „Also, wirklich!“, dann
lacht sie. „Ich habe es doch sofort gemerkt, als ich dein Gehalt
ansprach. Du bist kein Lügner. Gerade das liebe ich an dir“, sagt
sie. „Jedenfalls werde ich auch in die Bücher dieses AZ
hineinlesen. Vielleicht gefallen sie mir. Die Kotzszene fand ich
jedenfalls schon lustig.“ Sie gibt ihm zum Abschied ein besonders
liebevolles Küsschen, um seinen kommenden Tag ein wenig aufzuhellen.
Auf der Fahrt ins Büro denkt Leseitz an seinen Auftrag und an die
vielen neuen Möglichkeiten, die ein solcher Blog zulässt. Wieder
finden seine Gedanken ein Ende, als er links den Verlag der MünZ
sieht. Einbiegen in die Einfahrt, ein paar freundliche Worte mit dem
Portier gewechselt und schon hellt sich dessen gelangweiltes Gesicht
auf. Das gefällt Leseitz, es gibt ihm einen zusätzlichen Drive.
Wenig
später sitzt Leseitz am Computer. Er will vorerst mal alles finden,
was AZ geschrieben hat. Erst mal fällt ihm auf, dass es etliche AZ‘s
und Z‘s gibt, alles Juden. Zwei AZ‘s, Vater und Sohn, wurden in
Theresienstadt ermordet, ein weiterer in Auschwitz. Ein Z war sogar
Bürgermeister von Haifa. Er surft, den richtigen AZ suchend, und
findet auch einiges über ihn. Erstaunt entdeckt er auch zwei
kritische Bücher über Scientology, die AZ veröffentlicht hat.
Leseitz‘ unterschwellig ansteigende Achtung vor AZ wird getrübt –
offensichtlich gehört er zu jenen Leuten, die Sektenangehörige als
geistig minder bemittelt bewerten. Er liest rein in eins dieser
kritischen Bücher, erst widerwillig, dann mit Interesse, manchmal
lachend. Er schüttelt den Kopf über den ungewöhnlichen Inhalt. Er
liest auch die Leseproben einiger seiner anderen Bücher, fast jedes
hat einen anderen Stil. Sogar ein englischsprachiges ist darunter,
das er nicht als Kurzgeschichte, sondern als Einleitung zu einem
Science-Fiction-Roman klassifiziert. Und er findet auch kurze Exposés
dreier Drehbücher: Drama, Komödie, eine Serie. Vor allem diese
kurzen Exposés und Zusammenfassungen haben einen für ihn
ansprechenden Stil, sind informativ, sind präzise, sind Interesse
erweckend. Offensichtlich beherrscht AZ auch Pitching. Leseitz ist
jetzt ausreichend informiert, um AZ anzurufen.
Nach
dem anfänglichen Austausch formaler Höflichkeiten fragt AZ nach dem
Grund und den Inhalt des Interviews.
„Meine
Zeitung will mehr über noch unbekannte Autoren wie Sie herausfinden.
Z.B.: Woher haben Sie Ihre Ideen? Wie entwickelten Sie Ihren
Schreibstil? Was ist Ihre Einstellung zu verschiedenen politischen
und sozialen Themen? Ein Interview eben.“
„Verstehe…
Lassen Sie mich zurückrufen.“
Leseitz
schaut etwas erstaunt, als AZ unvermittelt auflegt. Er ahnt einen
unbequemen Interviewpartner. Nach ein paar Minuten ein Anruf: Es ist
AZ.
„Sorry,
ich wollte nur sichergehen, dass Sie auch wirklich bei der MünZ
arbeiten.“
Leseitz
überlegt kurz, was es mit dieser Vorsicht oder Paranoia auf sich
haben könnte, dann macht er einen Termin für ein Interview aus.
Er
liest weiter in den verschiedenen AZ-Büchern, macht Notizen.
Allgemeiner Tenor: nicht uninteressant.